Ein weißer Van hält am Stadttheater Herford, die Tür öffnet sich und wir sieben Teilnehmenden setzen uns auf die sieben Plätze, schrille Musik jedes Genres läuft und der Kleinbus fährt los in Richtung Polen. Wir, fünf Schüler:innen und zwei Lehrkräfte, dürfen am Youth Workshop Sobibór teilnehmen.
Angekommen in Warschau, fahren wir zusammen mit den neu zugestiegenen Teilnehmenden aus verschiedenen Nationen Europas über lange Autobahnen und lassen die Hauptstadt Polens hinter uns. Und sofort fangen wir an, uns mit unseren niederländischen Sitznachbarinnen auszutauschen. Nach circa vier Stunden erreichen wir unsere Unterkunft und beziehen unsere Zimmer. Sofort geht es mit dem Abendessen weiter. Typisch polnische Spezialitäten serviert uns die Unterkunft.
Am frühen Morgen des kommenden Tages entdecken wir die ruhig gelegene, kalte und noch mit Tau bedeckte Umgebung des eigentlichen Sommerortes. Lange Wege führen uns um den großen See mit Stegen und kleinen Wasserstellen.
Zeitnah besuchen wir das Tötungslager „Sobibór“. Abgelegen in einem urigen Wald, ohne viele Zeichen von Zivilisation — das überraschend moderne Museumsgebäude erweckt noch nicht den Anschein, dass an diesem Ort zehntausende Menschen getötet wurden. Gemeinsam mit einem Mitarbeiter des Museums erkunden wir die interaktive Dauerausstellung. Durch diese Verläuft eine Vitrine mit persönlichen Gegenständen der Getöteten. Von 60.000 vor Ort gefundenen Gegenständen sehen wir knapp 600. Darunter Familienfotos, Namensschilder, auch von Kindern wie Lea Judith de la Penha, welche mit sechs Jahren in Sobibór ermordet wurde. Eine Projektionsfläche zeigt uns die Transporte der Opfer aus ganz Europa. Sobibór ist auch für viele Niederländer ein bedeutsamer Ort. Von Amsterdam, über Hamburg und Berlin wurden die Menschen in Passagierzügen transportiert — mit dem Glauben, dass die Nationalsozialisten etwas Gutes mit ihnen vorhatten. Diese Illusion wurde aktiv geschaffen: Das kleine Dorf, wo die Wachleute und der Kommandant untergebracht waren, erzeugten das Gefühl, die Menschen seien nicht in Gefahr. Teilweise wurden sie von einem Blasorchester begrüßt und „durften“ Postkarten an ihre Verwandten schreiben — ein Vorwand der Nazis, um Adressen weiterer möglicher Opfer herauszufinden. Menschen, die aus der Umgebung oder Ländern des Ostens kamen, wurden vor allem in Güterzügen transportiert. Einige von ihnen starben bereits während des Transports ins Tötungslager. Die Dauerausstellung macht uns klar, wie brutal und entmenschlichend die Opfer des Nationalsozialismus behandelt wurden. Uns wird das Ausmaß dieses im Vergleich immer noch klein erscheinenden Tötungslagers klar. Historiker schätzen die Anzahl der ermordeten Menschen in Sobibór auf 180.000 — andere Stimmen geben jedoch Zahlen bis zu 1.000.000 Ermordeten an.
„Those of you who survive, should bear witness to this. Let the world know what happened here“, sagt Alexander Pechersky, ein Bekenner des Widerstands der Gefangenen.
Jonathan Smith, ein britischer Wissenschaftler, erzählt uns in einer Vorlesung, welche Rolle Postkarten zu dieser Zeit spielten. Sie waren nicht nur ein gängiges Mittel der Kommunikation, sondern wurden auch zur Verbreitung von Propaganda genutzt. Aber auch für Insassen waren Postkarten von besonderer Rolle, wie uns an einem der kommenden Tage klar werden soll. Unter den Zuhörenden des Vortrags sind Menschen, die Geliebte verloren haben oder welche, die sie kannten. Sogar Lehrerinnen der Süd- und Ostküste der USA sind für zwei Tage nach Polen geflogen, um ihrer Bekannten zu gedenken.
„Ich habe ihr versprochen, immer für sie zu kämpfen und sie niemals zu vergessen“, erzählt mir die Amerikanerin.
Ein weiterer Mitarbeiter des Museums geht mit uns über das Gelände des Lagers: lange Zugschienen und weite Grünflächen. Den Aufbau Sobibórs zu verstehen, ist schwer. Viele der Baracken und Gebäude gibt es nicht mehr. Umso abstrakter ist die Vorstellung, dass rund 2.000 Menschen täglich durch den sogenannten „Schlauch“ gingen. Kurz nach ihrer Ankunft gingen die Menschen auf einem circa 300 Meter langen Pfad in die Gaskammer. Der Boden, unter welchem bis heute die Asche der Verbrannten liegen, ist mit tausenden weißen Steinen bedeckt, die sich zu einem Berg häufen. Ein Gefühl von Ohnmacht und Verantwortung kommt in mir hoch. Wie konnte es so weit kommen? Zurück im Museumsgebäude treffen wir auf Louk van Mourik, ein Mann, der Sobibór nur aus Zufall entkommen ist. Van Mourik verlor seine Mutter und seine Schwester im Tötungslager und spricht deshalb mit uns, Schulklassen und sonstigen Personengruppen über sein und das Schicksal seiner Familie. Als kleiner Junge wuchs er in einer neuen Familie auf, trug einen anderen Namen und hatte vier verschiedene Geburtstage. Bis heute ist er der Frage nach Identität auf der Spur: Wer ist oder wäre er geworden?
„Besonders die Einzelschicksale, persönlichen Geschichten und Leidenswege sind mir im Kopf geblieben“, sagt einer der Teilnehmenden.
Gemeinsam mit den polnischen Schüler:innen besuchen wir die Synagoge, die historische orthodoxe Kirche und die katholische Kirche von Włodawa. Wir gehen an die Grenze zu Belarus, an der Polen aktuell Zäune und Sicherheitskameras installiert. „Wie sehen das die Menschen, die hier leben?”, fragen wir uns. Am Abend diskutieren wir knapp 60 Jugendlichen über gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit. Welche Rolle sollte Bildung und sollten Austausche, wie diese, dabei spielen? Wir Schüler:innen aus den Niederlanden, Polen, Österreich und Deutschland sind uns einig: Wir sind die Zukunft und Bildung formt uns. Um auch in Zukunft solche Ereignisse vorzubeugen, müssen wir lernen, miteinander umzugehen, zu diskutieren und uns zu tolerieren.
Sonntag — nach einem reichhaltigen Frühstück am Kamin fahren wir in das ehemalige Konzentrationslager „Majdanek“. Im Vergleich zum Tötungslager Sobibór, ist in Majdanek noch ein Teil originaler Baracken, Gebäude und Flächen vorhanden. Ein Tourguide geht mit uns in das erste Gebäude, das Gefangene aufsuchen mussten. Nach dem Abschneiden ihrer Haare mussten Gefangene in der Baracke „Bad und Desinfektion I“ duschen. In diesem Fall waren es echte Duschen, welche Ungeziefer und sonstige Krankheiten abtöten sollten. Und selbst hier wurde versucht, den Gefangenen möglichst großes Leid hinzuzufügen: Das Wasser wurde abrupt heiß und kalt gestellt. Bereits zwei Räume daneben befand sich eine der Gaskammern. Dort wurden vor allem alte, kranke und nicht arbeitsfähige Menschen ermordet. Wir gehen weiter. In einer nächsten Baracke sehen wir originale „Häftlingskleidung“, kleine Metallketten mit Häftlingsnummern und eine Skulptur einer Schildkröte. Ein Gefangener musste diese unter dem Motto der Nazis „Schmücke dein Heim“ erstellen. Die Schildkröte soll aber nicht nur das Arbeitslager „verschönern“, sondern könne auch als Aufruf an andere Gefangenen gesehen werden. Der Tourguide erklärt uns, dass der Gefangene andere Gefangene dazu bewegen wollte, langsam zu arbeiten, um eigene Kräfte zu sparen und die Nazis nicht mit der eigenen Arbeit zu unterstützen. Unsere Gruppe begibt sich in die nächste Baracke, welche Lederschuhe beherbergt: Meterhohe und meterbreite Kästen voller Schuhe der Opfer dieses Konzentrationslagers – und nicht einmal die Schuhe aller Opfer finden Platz in der Baracke. Der intensive Geruch von altem Leder gewährt nur einen kleinen Einblick in die Massen der Menschen, die hier ihr Leben verloren. Auf dem Weg zum Krematorium blicken wir in ein sogenanntes „archäologisches Fenster“: Wir sehen alte Grabsteine jüdischer Friedhöfe. Diese wurden von den Nazis als Bausubstanz für Straßen und Wege in Majdanek verwendet. Wir sehen verschiedene Wandplakate neben den langen Zäunen und hohen Wachtürmen. Auf einem dieser lesen wir: „Those who cannot remember the past are condemned to repeat it”, George Santayana. Besonders deutlich wird mir dieses Zitat, als wir das Krematorium betreten. Ein Raum, der nur für die Lagerung der Leichen verwendet wurde, verfügt über einen Abfluss für Blut und sonstige Körperflüssigkeiten. Menschen, die zu dem Zeitpunkt noch lebten, wurden von Männern der SS totgeschlagen. Anschließend sehen wir die Verbrennungsöfen – der Zustand all dieser Dinge zeugt davon, dass diese Verbrechen noch nicht lange vergangen sind.
Am Montag, dem 14.10.2024, jährt sich die Befreiung des Vernichtungslagers Sobibór zum 81. Mal. Anlässlich unseres Workshops dürfen wir die Gedenkveranstaltung mitgestalten. Lokale Politiker, die Museumsdirektorin, Vertreter der niederländischen Krone und viele weitere wohnen der Veranstaltung bei. Ein kalter, rauer Wind zieht über das Gelände des ehemaligen Vernichtungslagers. Wir Jugendliche lesen Namen der hier ermordeten Menschen unserer Heimatstädte vor.
„We remember. Fanny Anna Kaufmann-Weinberg, Herford Emmi Renate Löwenstein, Herford Else Löwenstein-Geldberg, Herford Frieda Hecht, Herford Hugo Löwenstein, Enger“ Das sind nur einige Beispiele der in Sobibór ermordeten Menschen.
Wir treffen auf einen der Mitgründer unseres Programms, Doede Sijtsma. „Lernt aber lebt“, betont dieser während unseres Gesprächs. „Nur gemeinsam können wir lernen, nicht links- oder rechtsradikal, sondern mit radikaler Milde zu agieren.“ Am Abend hören wir die Gruppe „Sentido“, ein Trio aus Ziehharmonika, Gesang und einer „Daf“-Trommel. Ihr einstündiges Programm mit „Geschichten aus dem jüdischen Schtetl“ durchlebt verschiedenste Emotionen. Die Sängerin Maria Roma Klatka begeistert das durchmischte Publikum. Am letzten gemeinsamen Abend evaluieren wir die Reise. Jedes der teilnehmenden Länder bedankt sich bei den Veranstaltern. Zum Schluss singen alle gemeinsam Karaoke und spielen Gesellschaftsspiele.
Den letzten gemeinsamen Vormittag verbringen wir in der 2-Millionen-Einwohnerstadt Warschau. Wir erkunden das ehemalige Ghetto, welches von den Nazis errichtet wurde. Knapp 400.000 Menschen waren dort eingeschlossen. Nur einige von ihnen haben überlebt. Neben dem Museum der Geschichte polnischer Juden fiel Willy Brandt 1970 auf die Knie. Kurz darauf stehen wir auf dem „Umschlagplatz“, eine der Filmkulissen des Films „Der Pianist“. Hier wurden die Juden in die Konzentrations- und Vernichtungslager deportiert. Die ersten Teilnehmenden reisen ab und unsere Gruppe besichtigt die Altstadt Warschaus. Den Sonnenuntergang beobachten wir vom Aussichtsturm „Taras Widokowy“. Herzlichen Dank an die Stiftung Polnisch-Deutsche Aussöhnung.