Ein Blick nach Frankreich – das deutsche Schulsystem

Deutschland gab 2020 4,7 % des BIP für Bildung aus. Dänemark investiert 6,4 % in Bildung, Frankreich 5,5 %. Wie sieht Deutschlands Bildungssystem also im Vergleich zu anderen Ländern aus? Im Interview: Nicolas Aubert, Vize-Präsident CVL (Conseil de la Vie Lycéenne, eine Art Schülervertretung) des Gymnasiums “Janson-de-Sailly” aus Paris.

Wie ist die Schülervertretung in Frankreich organisiert? Welche Rolle spielt der Conseil de la Vie Lycéenne (CVL)?   “In Frankreich wählen die Schülerinnen und Schüler jedes Jahr zwei Delegierte in ihrer Klasse. Darüber hinaus stimmen sie für Schülerlisten im Conseil de la Vie Lycéenne (CVL). Diese Schüler haben die Aufgabe, alle Schüler vor der Schulleitung zu vertreten. Unter ihnen wird ein Vizepräsident des CVL von allen Klassendelegierten gewählt. […] Der Conseil de la Vie Lycéenne hat hauptsächlich zwei Rollen. Die erste besteht darin, alle Schülerinnen und Schüler der Schule vor der Schulleitung zu vertreten. Man kümmert sich dann um Themen wie psychische Gesundheit, Arbeitsbelastung, aber auch um die verfügbare Ausstattung, Sauberkeit und Arbeitsbedingungen. Im Verwaltungsrat ist es die Aufgabe der gewählten Vertreter der CVL, die Interessen der Schüler zu vertreten. […]   Die zweite Rolle der CVL besteht darin, das Leben der Schüler an der Schule zu beleben. Man organisiert Veranstaltungen, Aktivitäten, Projekte, Ausflüge und manchmal sogar Klassenfahrten. Ziel ist es, dass das Leben der Schüler am Gymnasium nicht nur darin besteht, in den Unterricht zu gehen, sondern dass es auch eine Atmosphäre gibt, mit fröhlichen Momenten wie der Talentshow, dem Karneval oder dem Ball und Momenten der Entdeckung und Bildung wie MUNs (Model United Nations), oder kulturelle Feste (z. B. das chinesische Neujahrsfest). Unsere Projekte können auch darin bestehen, zusätzliche Ausstattung für die Schülerinnen und Schüler zu finanzieren.”

Welche Rechte und Einflussmöglichkeiten haben Schülervertreter in Frankreich? “Grundsätzlich haben alle Schülerinnen und Schüler ein gesetzlich garantiertes Recht auf Plakate und Versammlungen in der Schule (Code de l’Éducation). Schülervertreter haben darüber hinaus keine besonderen Rechte, man spricht eher von Erleichterungen: So darf man beispielsweise im Unterricht fehlen, um an einer Versammlung teilzunehmen, die mit dem Leben der Schüler zu tun hat. […]

Gibt es ein Thema, das die Schülervertretung deiner Schule derzeit besonders beschäftigt? “In unserer Schule ist es vor allem der Zustand der Einrichtungen, sie sind sehr alt: In den Klassenzimmern oft Wasser, einige sind gefährlich: Es sind schon Fensterscheiben direkt neben Schülern heruntergefallen, und sie sind überhaupt nicht sauber, das gilt zum Beispiel auch für die Sanitäranlagen. In der Kantine sind die Warteschlangen zu lang, sodass die Schüler oft keine Zeit haben, richtig zu essen. […] Ganz allgemein hingegen geht es in Frankreich momentan vor allem um die Frage der Unterrichtszeiten, der Arbeitszeit in der Schule und der Ferien. […]”

Wie werden die Schulen in Frankreich finanziert? Welches Budget wird für das Bildungssystem bereitgestellt? Ist es ausreichend? “Die Finanzierung von Schulen in Frankreich ist in zwei Teile getrennt: zum einen die Schule als Gebäude und zum anderen die Schule als Institution (Lehrer, …) Die Schule als Institution wird auf nationaler Ebene durch das Ministerium für die Éducation Nationale finanziert, ihr Budget hängt also von der Regierung und dem Staat ab. Die Schule als Gebäude hingegen wird nicht direkt vom Staat, sondern von den Gebietskörperschaften finanziert: Bei den Gymnasien sind es die Regionen. So werden zum Beispiel in Janson-de-Sailly die Gebäude, Klassenzimmer und deren Instandhaltung von der Region Île-de-France finanziert, während die Gehälter der Lehrer und des Verwaltungspersonals vom Bildungsministerium finanziert werden. Das von der Region für die Instandhaltung der Schulen bereitgestellte Budget ist eindeutig unzureichend, aber es ist schwer, etwas Besseres zu erreichen. Viele Schulen, darunter auch unsere, leiden unter Problemen mit einer verfallenen oder veralteten Infrastruktur. […] Leider tut die Region ihr Bestes, aber es ist schwierig, genug Geld zu finden, um alle Probleme gleichzeitig zu lösen. Im Bildungswesen ist nicht so sehr das Budget das Problem, sondern vielmehr der Mangel an Lehrern. Vielleicht könnte eine Gehaltserhöhung mehr Lehrer anziehen, aber ich bin nicht davon überzeugt, dass Geld das eigentliche Problem ist. […]”

Die französischen Lehrergehälter variieren je nach Bildungsstufe und Dienstalter. Die sogenannten agrégés beginnen bei 2076 Euro und können auf bis zu 4555 Euro hoffen. In Deutschland liegt das Einstiegsgehalt der A13 Besoldungsgruppe, also unter anderem Gymnasiallehrkräften, bei 4.588,38 Euro.

Wird das Thema Digitalisierung in französischen Schulen vorangetrieben? Welche Ausstattung ist in deiner Schule vorhanden? “Ja, dies gilt insbesondere für die Region Île-de-France, die Schulen dazu ermutigt, auf digitale Schulbücher umzusteigen, und jedem Gymnasiasten einen Laptop zur Verfügung stellt, den er auch nach der Schule behalten darf. Dies ist auch der Fall in vielen anderen französischen Regionen. […] Leider sind einige Schulen gegen die Umstellung auf digitale Medien, angefangen mit dem Lycée Janson-de-Sailly, dessen Lehrer und Schulleitung ziemlich zurückhaltend sind. […]”

Fallen bei dir auch häufig Kurse aus? “Dies kommt in Janson-de-Sailly gelegentlich vor, und die Lehrer holen den versäumten Unterricht oft nach, was in den meisten Gymnasien auch der Fall ist, wenn es nur um ausgefallene Unterrichtsstunden geht. Andererseits kann es vorkommen, dass einer Klasse kein Lehrer zugewiesen ist, und der Unterricht kann dann für längere Zeit ausfallen. Es kann auch vorkommen, dass Lehrer für längere Zeit krankgeschrieben sind und nicht ersetzt werden. In solchen Fällen werden die Schüler oft allein gelassen und müssen sich selbst helfen, sich selbstständig durch den Lehrplan zu arbeiten. Es ist schon vorgekommen, dass mich ein Schüler aus der Seconde gebeten hat, ihm in Französisch zu helfen, weil er seit über einem Jahr keinen Unterricht mehr hatte. Einige Familien, die es sich leisten können, gleichen dies mit Privatunterricht aus. […]”

Was gefällt dir (oder gefällt dir nicht) am französischen Bildungssystem? “Ich würde sagen, dass mir alles am französischen Schulsystem gefällt, mit Ausnahme des Bewertungssystems. […] Die Bewertungen in Frankreich dienen meiner Meinung nach nur dazu, das Gedächtnis der Schüler zu einem bestimmten Zeitpunkt zu testen: […] Wenn wir es schaffen, bekommen wir eine gute Note, und dann geht es weiter, egal, ob die Schülerinnen und Schüler es verstanden haben oder nicht, und vor allem egal, ob sie es vergessen oder nicht. Die meisten Schüler vergessen nach einigen Wochen, was sie gelernt haben, auch wenn sie im Test eine 20/20 bekommen haben. […]”

Was müsste deiner Meinung nach verbessert werden, um die Schulen zukunftstauglicher zu machen? “Ein besserer Kontakt der Schüler mit der digitalen Welt. […] Viele Jugendliche nutzen diese Werkzeuge falsch. […] ChatGPT ist ein Werkzeug, um uns zu helfen, Konzepte zu verstehen, die wir nur schwer begreifen können, seien es mathematische Theoreme oder philosophische Begriffe, oder sogar, um eine Sprache zu lernen und fremde Inhalte präzise zu übersetzen. TikTok ist eine Möglichkeit, sich mit kurzen Videos aktuelle Ereignisse, Allgemeinbildung, Geschichte und Wissenschaft weiterzubilden. Mit Hunderten von einminütigen Videos, die man jeden Tag sieht, sammelt man leicht eine außerordentliche Menge an Informationen, ohne auch nur Gefühl zu haben zu lernen. […] Aber leider lernen wir in der Schule nicht, wie man diese Dinge richtig benutzt […]. Die Erwartungen an die Bewertung müssen eindeutig überarbeitet werden, weniger Platz Auswendiglernen und kurzfristiges Bruttogedächtnis lassen, sondern mehr Reflexion und praktische Anwendung von Wissen und Fähigkeiten einbeziehen. Beispielsweise wird im Französischabitur für den schriftlichen Aufsatz verlangt, dass wir Zitate auswendig lernen, die später sofort wieder vergessen werden. Ich habe diese Prüfung mit 20/20 bestanden, aber ich bin mir sicher, dass ich heute nicht mehr in der Lage bin, die Hälfte der Zitate, die ich in die abgegebene Arbeit eingebaut habe, wieder hervorzuholen. […] Der Schüler soll nicht sollte sich nicht dabei ertappen, dass er in den Unterricht geht, nur er, um passiv dazusitzen und ohne die geringste Aufmerksamkeit einem Unterricht zuzuhören, der ihn interessiert.”

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